Hier der zweite Teil der Geschichte der populären Musik Äthiopiens.
Die Swinging Sixties
Nachdem Äthiopien mit Hilfe der Engländer im Zweiten Weltkrieg die italienischen Besatzer besiegt hatte, blieben die englischen Truppen bis Ende der vierziger Jahre im Lande. In dieser Zeit hatte die englische Militärverwaltung weitreichende Vollmachten und beschnitt die äthiopische Regierung unter Haile Selassie in weiten Bereichen ihrer Souveränität. Aus diesen schlechten Erfahrung erwuchs der Wunsch Haile Selassies, einen neuen Verbündeten zu suchen. Den fand er in den USA, die sich mit dem Beginn des Kalten Krieges und der wachsenden Bedeutung, die der Nahe Osten für ihre strategischen Interessen bekommen hatte, nach der Revolution in Ägypten 1952 einen wichtigen Stützpunkt in der Nähe des Roten Meeres suchten. Durch das Bündnis mit Äthiopien erhielten die USA die Möglichkeit die Qagnew Station (ቃኘው ጣቢያ ‘Qaññäw Ṭabiya’ Amh. Horch-Stützpunkt) in Asmara als strategische Abhörstation zu nutzen und Äthiopien erhielt umfangreiche Unterstützung beim Aufbau seines Militärs und in anderen Bereichen.
In den Jahren nach dem Krieg gingen immer mehr junge Äthiopier zum Studium in die USA. Dieser verstärkte Kontakt mit den Vereinigten Staaten hinterließ auch seine Spuren in der Musik. So wie in Europa zu Beginn der sechziger Jahre fanden auch in Äthiopien Rock’n Roll, Twist und Soul den Weg auf die Tanzfläche. Äthiopische Bands kopierten die neuen Stile, spielten die Stücke von Elvis und anderen nach und vermischten diese mit eigenem. Damit passierte dasselbe wie in den fünfziger Jahren. Fremde Musikstile wurden kopiert und, indem sie mit eigenen Elementen kombiniert wurden, entstanden äthiopische Formen des Rock’n Roll und des Twist.
Die sechziger Jahre standen aber nicht nur im Zeichen des gewachsenen amerikanischen Einflusses. Es war ebenso das Jahrzehnt der neu gewonnenen Unabhängigkeit der meisten afrikanischen Staaten. Der äthiopische Kaiser, dessen Lieblingsbeschäftigung die Außenpolitik war, und der sich als Stimme des unabhängigen Afrikas betrachtete, machte Addis Abeba zur ‘Hauptstadt’ Afrikas indem er den Sitz der 1963 gegründeten OAU nach Addis Abeba holte. Alle neu entstandenen Staaten schickten Botschafter in die äthiopische Hauptstadt, was wiederum den Nachzug weiterer internationalen Organisationen mit sich brachte. Im Geist des Aufbaus und Optimismus, der in diesen Jahren durch den gesamten Kontinent zu wehen schien, entwickelte sich Addis zu einer aufstrebenden Stadt, die den Flair einer Metropole ausstrahlte.
Mit der zunehmenden Zahl von Äthiopiern, die im Ausland gewesen waren und mit dem verstärkten Kontakt zur westlichen Welt verbreiteten sich auch Ideen des gesellschaftlichen und politischen Wandels. 1960 hatte es den ersten großen Umsturzversuch gegeben und so fand im Verlauf der sechziger Jahre das Ethiopian Student Movement immer mehr Zulauf und wurde zu einem Sammelpunkt der intellektuellen Opposition. Ähnliches spielte sich in der Musikszene ab. Noch zu Beginn der sechziger Jahre waren fast alle Musikgruppen Teile staatlicher Institutionen. Doch dann entstanden überall in Hotels und Nachtclubs private Tanzbands. Schallplatten importieren und produzieren durfte aber immer noch nur die Hagär Fəqər Gesellschaft. Bis Ende der sechziger Jahre waren jedoch lediglich einige Singles (45 rpm) mit traditioneller Musik erschienen. Endlich, im Jahr 1969, nutzte ein junger Mann, Amha Eshete (አምሃ እሸቴ ‘Amha Ǝšäte’), die Untätigkeit des verkrusteten Verwaltungsapparats, ignorierte das kaiserliche Dekret von 1948 und gründete sein eigenes Label: Amha Records. Die ersten Platten hatte er noch in Indien pressen lassen, doch bald stellte es sich heraus, daß er von der staatlichen Seite nichts zu befürchten hatte.
Nun begann die Zeit, die der Spezialist für äthiopische Musik Francis Falceto die Goldene Ära nannte. Zu Amha Records gesellten sich weitere Produzenten: die Firma Phillips, der armenische Geschäftsmann Muse Garbis Garbadian und Kaifa Records, die Firma des aus Eritrea stammenden Ali Abdallah Kaifa (ዓሊ ዓብዳላህ ካይፋ ‘ʿAli ʿAbdallah Kayfa’), bekannt auch als Ali Tango. Amha Eshete produzierte ungefähr einhundert Singles und einige Lps mit den verschiedenen staatlichen Bands wie der Hagär Fəqər Band (das moderne Ensemble des Theaters), der Army Band, dem Police Orchestra aber auch mit privaten Gruppen wie die Ibex Band oder die Equators Band. Dabei begleiteten diese Bands bekannte Größen wie Tilahun Gessese, Alemayehu Eshete (አለማየሁ እሸቴ Alämayyähu Ǝšäte), Hirut Beqele (ሂሩት በቀለ ‘Hirut Bäqqälä’), Mahmoud Ahmed (ማህሙድ አህመድ ‘Mahmud Ahmäd’) und Getachew Kasa (ጌታቸው ካሳ ‘Getaččäw Kasa’), aber auch ganz junge Sänger wie den damals gerade einmal 13 Jahre alten Muluqen Mellese (ሙሉቀን መለሰ ‘Muluqän Mälläsä’).
Neben Amha Records spielte Ali Kaifa eine wichtige Rolle in der Entstehung einer einheimischen äthiopischen Musikproduktion. Er ist der einzige der Produzenten der ersten Stunde, der bis in die neunziger Jahre des 20. Jahrhunderts Musik produzierte. In der ersten Hälfte der Siebziger waren es etablierte Stars aus den Sechzigern wie Alemayehu Eshete, Hirut Beqele, Tamrat Ferendji (ታምራት ፈረንጂ ‘Tamrat Färänǧi’), Bizunesh Beqele (ብዙነሽ በቀለ ‘Bəzunäš Bäqqälä’), Ayalew Mesfin (አያሌው መስፍን ‘Ayyalew Mäsfən’) und Mahmoud Ahmed. Genau wie bei Amha sangen diese mit Bands verschiedener Hotels wie der Shebelle Band, Sensation Band, Dahlak Band, Black Lion Band aber auch mit dem Police Orchestra. Gleichzeitig förderte er jedoch sehr früh schon junge Talente wie Hamelmal Abate (ሐመልማል አባተ ‘Hamälmal Abatä’), Neway Debebe (ነወይ ደበበ ‘Näway Däbbäbä’), Aster Kebede (አስቴር ከበደ ‘Aster Käbbädä’) und Aster Aweke (አስቴር አወቀ ‘Aster Awwäqä’), die ihre ersten Aufnahmen mit Ali Tango machte.